Spinalkanalstenose – Physiotherapie bei lumbaler Wirbelkanalverengung.
Was ist eine Spinalkanalstenose?
Unter Spinalkanalstenose versteht man eine dauerhafte Verengung des Spinalkanals oder der Neuroforamina (Neuroforamenstenose) mit möglicher Kompression von Nervenstrukturen. Primär degenerative Prozesse (Bandscheiben‑ und Facettendegeneration, Hypertrophie des Ligamentum flavum, gelegentlich Spondylolisthesis) führen zu einer relativen Enge. Klinisch dominieren beinbetonte Beschwerden beim Gehen (neurogene Claudicatio) mit Besserung in Flexion. Für die Therapieplanung ist die funktionelle Relevanz entscheidend – Ziel ist nicht die anatomische „Weitung“, sondern die Optimierung von Funktion, Gehstrecke und Lebensqualität [1–3].
Symptome und klinisches Bild
- belastungsabhängige Beinschmerzen, Schweregefühl, Parästhesien
- Besserung beim Sitzen/Vorneige (Einkaufswagen‑Phänomen)
- verkürzte Gehstrecke, unsicheres Gangbild, gelegentlich Rückenschmerz
- Warnzeichen (ärztlich abklären): progrediente Paresen, Blasen‑/Mastdarmstörungen
Für die Physiotherapie stehen Geh‑/Belastungstoleranz, Haltung/Bewegungsstrategie und alltagsrelevante Ziele im Fokus.
Leitlinienlage & Evidenz (2024–2025) – konservativ zuerst
Deutschsprachige und internationale Empfehlungen für eine Spinalkanalstenose sehen bei milden bis moderaten Verläufen ohne neurologische Defizite eine konservative, multimodale Therapie als Erstwahl vor. Die AWMF‑Leitlinie „Spezifischer Kreuzschmerz“ adressiert die operative Indikationsstellung bei Lumbaler Spinalkanalstenose zurückhaltend; eine Dekompression wird erst nach unzureichendem konservativem Verlauf erwogen und eine routinemäßige zusätzliche Fusion nicht empfohlen [1].
Systematische Übersichten und Reviews zeigen moderate Evidenz zugunsten multimodaler Programme aus Aufklärung, Manualtherapie und Übungstherapie; insbesondere flexionsorientierte Mobilisation, Kräftigung und dosiertes Ausdauertraining verbessern Schmerz, Gehfähigkeit und Lebensqualität [2–4]. Aktuelle klinische Rehaprotokolle bestätigen den konservativen Stufenplan (zeit‑ und kriteriumsorientiert) [5].
Epiduralsteroid‑Injektionen zeigen inkonsistente Effekte und sind für lumbale Spinalkanalstenose mit neurogener Claudicatio insgesamt nicht überzeugend belegt; konservative Maßnahmen sollten vor interventionellen Optionen ausgeschöpft werden [2,6].
Physiotherapeutischer Behandlungsansatz bei Spinalkanalstenose – Struktur & Umsetzung
Ziele bei der Behandlung von Spinalkanastenose
- Gehstrecke und Belastbarkeit erhöhen
- Schmerzen/Missempfindungen reduzieren
- Beweglichkeit, Stabilität und Alltagsfunktionen verbessern
- Selbstwirksamkeit und Aktivitätsniveau steigern
- Operation vermeiden/aufschieben, wo sinnvoll
Kernmaßnahmen (evidenzbasiert)
Mobilisation in Flexion
Flexionsorientierte Bewegungen (Vorneige, stair‑climbing mit leichter Rumpfbeugung, Fahrradergometer) erweitern den funktionellen Kanalquerschnitt und erleichtern die Durchblutung neuraler Strukturen. Im Alltag kann ein Rollator oder der Einkaufswagen die Vorneige unterstützen. Progression: von kurzen Intervallen zu längeren Gehstrecken [2–5].
Kräftigung & neuromuskuläre Kontrolle
Funktionelle Kräftigung von Rumpf‑/Hüftmuskulatur (Bridge, Side‑Plank‑Varianten, Hip‑Hinge/Chair‑Sit‑to‑Stand), Kontrolle der Becken‑/LWS‑Position, Balance‑Training. Ziel: Lastverteilung verbessern, Extensivhaltung vermeiden, Gangökonomie erhöhen [2–4].
Ausdauer & Gehtraining
Intervall‑Gehtraining (z. B. 1–3‑min Belastung/30–60 s Pause) in leichter Vorneige; Fahrradergometer oder Aquajogging bei niedriger axialer Last. Progressiv Frequenz/Umfang steigern, Symptom‑geleitet dosieren. Outcome: Gehstrecken‑Zuwachs und Lebensqualität [3–5].
Aktivitäts‑ & Alltagsschulung
Aufklärung zu Positionswechseln, Steh‑/Sitzrhythmus, Heben/Tragen mit Hüft‑ statt LWS‑Extension, ergonomische Anpassungen (Arbeitsplatz, Haushalt, Einkaufen). Pausenmanagement (kurze Flexions‑„Reset“‑Phasen) und schrittweiser Aufbau täglicher Schritte.
Manuelle & passive Maßnahmen (adjuvant)
Segment‑/Weichteiltechniken, Wärmeanwendungen, Traktion in Einzelfällen als Symptom‑Modulatoren einsetzen – stets kombiniert mit aktiver Übungstherapie; passiv allein ist nicht ausreichend [2–4].
Therapieplanung, Dosierung & Monitoring
Therapiezyklus: 4–6 Wochen, 2–3 Sitzungen/Woche plus Heimprogramm (täglich kurz, konsequent). Dosierung symptomgeführt (0–10‑Skala, Ziel ≤ 3–4 während der Belastung). Monitoring über Schmerz, Gehstrecke (Meter/Minuten bis Pause), Patient‑Reported Outcomes (z. B. ODI, EQ‑5D). Bei Stagnation: Variablen anpassen (Intensität, Übungsauswahl, Pausen), interdisziplinär rückkoppeln. Bei Warnzeichen oder progredienten Defiziten bedarf es einer ärztlichen Abklärung [1–5].
Übungen bei Spinalkanalstenose (Beispiel‑Progression)
Phase 1 (Entlasten & Aktivieren): Cat‑Camel in schmerzarmem Bereich, Knie‑zu‑Brust im Sitz, kurze Gehintervalle mit Vorneige, isometrische Rumpfspannung (Abdominal Bracing), Side‑Lying Hip Abduction.
Phase 2 (Stabilisieren & Kapazität steigern): Bridge‑Varianten, Side‑Plank‑Knie, Step‑Ups mit leichter Vorbeuge, Fahrradergometer 10–20 min in Intervallen, Gangschule (Schrittlänge/Frequenz).
Phase 3 (Funktion & Ausdauer): Sit‑to‑Stand‑Serien, Hip‑Hinge mit Last (Kettlebell/Alltag), längere Gehintervalle, optional Aquajogging. Alle Übungen symptomgeführt dosieren und technisch sauber ausführen [3–5].
Häufige Fragen rund um Spinalkanalstenose
Welche Übungen helfen bei Spinalkanalstenose?
Flexionsorientierte Mobilisation, Rumpf‑/Hüftkräftigung, Intervall‑Gehtraining und Fahrradergometer in leichter Vorneige. Immer symptomgeführt und regelmäßig.
Welche Übungen nach einer Spinalkanalstenose Operation?
Nach Dekompression frühfunktionell beginnen (Mobilität, Kräftigung, Gehen), protokoll‑ und arztgeführt, Progression nach Wundheilung und Belastbarkeit [1,5].
Wann ist eine Operation nötig?
Bei persistierender, alltagsrelevanter Einschränkung trotz adäquatem konservativem Vorgehen (mehrere Wochen/Monate), bei neurologischen Defiziten oder Blasen‑/Mastdarmstörungen – interdisziplinär entscheiden [1].
Kann Physiotherapie die Enge rückgängig machen?
Nein. Ziel ist die funktionelle Verbesserung (Gehstrecke, Schmerz, Lebensqualität); anatomische Enge bleibt, Beschwerden lassen sich dennoch deutlich reduzieren [2–4].
Fazit
Die lumbale Spinalkanalstenose ist häufig und konservativ gut behandelbar. Eine strukturierte, evidenzbasierte Physiotherapie mit Flexion, Kräftigung, Ausdauer‑/Gehtraining und Alltagsschulung steigert Gehstrecke und Lebensqualität und kann Operationen vermeiden oder sinnvoll hinauszögern. Entscheidend sind symptom‑geleitete Dosierung, konsequente Eigenübungen und klares Monitoring mit rechtzeitiger ärztlicher Rückkopplung bei Warnzeichen [1–5].
Literatur
[1] AWMF‑Register 187‑059: S2k‑Leitlinie Spezifischer Kreuzschmerz (Abschnitt lumbale Spinalkanalstenose), Stand 07/2024.
[2] Ammendolia C et al. Non‑operative treatment for lumbar spinal stenosis with neurogenic claudication. Systematic review, 2022.
[3] Comer C et al. Exercise treatments for lumbar spinal stenosis (neurogenic claudication). Systematic review, 2023/2024.
[4] Kwon J et al. Lumbar Spinal Stenosis: Review Update. 2022.
[5] Massachusetts General Brigham: Rehabilitation Guidelines for Conservative Management of Lumbar Spinal Stenosis. 2025.
[6] S3‑Leitlinie: Epidurale Injektionen bei degenerativen Erkrankungen. AWMF 151‑005, 06/2025.